Entsteht Naturlandschaft nur durch große Pflanzenfresser?

Vortrag von Dr. Frans Vera im Waldgeschichtlichen Museum St. Oswald rüttelte am Fundament bisheriger Erkenntnisse über Walderneuerung

Pressemitteilung Nr. 175/09

Datum: 22.12.2009

Im Naturschutzgebiet Oostvaarderplassen nahe Amsterdam leben Reh- und Rotwild, Auerochsen und Wildpferde sowie Graugänse beieinander und nutzen gemeinsam das Grasland. 
Foto: Dr. Vera

Im Naturschutzgebiet Oostvaarderplassen nahe Amsterdam leben Reh- und Rotwild, Auerochsen und Wildpferde sowie Graugänse beieinander und nutzen gemeinsam das Grasland. Foto: Dr. Vera

(Pö) Organisator Dr. Jörg Müller von der Nationalparkverwaltung übertrieb nicht im geringsten, als er in seinen einführenden Worten von einem spannenden Experiment sprach, um die annähernd 100 Zuhörer auf einen sicherlich nicht alltäglichen, aber hochinteressanten Vortrag einzustimmen.

Dr. Frans Vera aus Holland, dem Land der Deichbauer, versetzte sein Publikum gleich von Beginn weg mit einem äußerst lebhaften und kurzweiligen Vortrag ständig von neuem in teils ungläubiges Erstaunen, brachte er doch so manch stabil geglaubtes Bild über das Werden und Vergehen von Naturlandschaften ins Wanken.
Grundlage seines beeindruckenden Referates bildete ein spektakuläres Weidegebiet in Oostvaarderplassen, nur eine halbe Autostunde entfernt von Amsterdam gelegen. Dort wurde 1968 ein Polder von 34.000 Hektar trockengelegt und auf 15.000 Hektar, also etwas mehr als das Rachel-Lusen-Gebiet des Nationalparks Bayerischer Wald als Naturschutzgebiet ausgewiesen, in dem die Philosophie „Natur Natur sein lassen“ wirklich in Reinkultur gilt. Um negative Einflüsse nach und von außen zu minimieren, wurde das Gebiet umzäunt. Es liegt vier Meter unter dem Meeresspiegel und weist Gewässer, Schilfzonen, offene Weideflächen und entstehenden Wald auf. Fehlende große Pflanzenfresser – nachgezüchtete Auerochsen und Tarpane (Wildpferde) - wurden angesiedelt. Ab diesem Zeitpunkt wird auf ganzer Fläche in die Tier- und Pflanzenwelt nicht mehr eingegriffen.
„Ziel des Experimentes ist es“, so Dr. Vera, „Eindrücke zu erhalten, wie sich unbeeinflusste Landschaft entwickelt, um u. a. auch Rückschlüsse zu ziehen, wie unsere Naturlandschaft früher aussah“. Nach Dr. Vera dürfen unsere heutigen Vorstellungen darüber, insbesondere wenn es um Wald geht, keinesfalls als gesicherte Tatsachen betrachtet werden.
In einer recht anschaulichen Zeitreihe untermauerte er seine These und sprach von „verschobenen Eich-Punkten“. Mit der zunehmenden Kultivierung der Landschaft durch den Menschen seit der Steinzeit veränderte sich auch das Bild, das unter Natur zu verstehen ist. Schon um 1800 wurde Kulturlandschaft als Natur bezeichnet. „Wir können auch heute noch beobachten, wie die Standards für die Definition Natur von Generation zu Generation gesenkt werden. Der schleichende Artenverlust wird einfach hingenommen“, beklagte Dr. Vera. Aber was ist eigentlich Natur, wie würde sie aussehen? Der anerkannte Forstwissenschaftler Heinrich Cotta prognostizierte 1816, dass sich Mitteleuropa in 100 Jahren zu einem einzigen Waldgebiet entwickeln würde, wenn der Mensch sich zurückzöge. Auf das Naturschutzgebiet Oostvaarderplassen trifft das sicherlich nicht zu, wie die bisherige Entwicklung zeigt.
Als erstes kehrten verschwundene Vogelarten wie der Silberreiher oder der Seeadler zurück. Graugänse nahmen deutlich zu und „bewirtschaften“ die Wiesen und Schilfflächen. Gleiches gilt für die Rehe und Hirsche. Für uns unvorstellbare Wilddichten bevölkern heute das Gebiet. Zusammen mit den eingesetzten Großherbivoren Auerochsen und Tarpane wird die Vegetation intensiv genutzt. Eine Walderneuerung über Samen, Keimlinge und Jungpflanzen, so wie wir es von den Wäldern im Nationalpark kennen, findet natürlich nicht statt, denn Pflanzenfresser lassen es nicht zu, dass ihre Lebensgrundlage verschwindet. Und dennoch lässt sich beobachten, dass sich der vorhandene Wald verjüngt. Die Art und Weise ist jedoch komplizierter als bei uns und der Generationenzyklus mit bis über 500 Jahren sehr viel länger. Dr. Vera veranschaulichte die Vorgänge mit sehr aufschlussreichen Fotos und Grafiken. Denen zufolge verjüngen sich die Wälder auf den Weideflächen mit Hilfe von Wacholder, Weiß- und Schwarzdorn. Diese stacheligen bzw. dornigen Sträucher werden selbst von den großen Pflanzenfressern verschont, vorausgesetzt, sie überstehen das erste, weil dornenlose Jahr. Besonders entlang der Waldränder können dann die Samen der etablierten Waldbäume im Schutz der Dornenbüsche keimen und zu einem mehr oder weniger lichten Waldstreifen heranwachsen. Mit zunehmendem Kronenschluss des neu entstandenen Waldes verschwinden die lichthungrigen Sträucher und letztendlich auch das Gras und mit ihm auch die Masse der Großherbivoren. Eine direkte Naturverjüngung im neuen Wald durch Samen wird von den verbliebenen Wiederkäuern konsequent verhindert. Es müssen mitunter mehrere 100 Jahre vergehen, bis die alten Baumbestände der natürliche Alterstod auflichtet, sich erneut Gras bildet, sich Dorngewächse ansamen und in deren Schutz der ganze Zyklus neu beginnt.
Dr. Vera ist überzeugt, dass dieses Mosaik von Wald und Offenland der echten Naturlandschaft am nächsten kommt. Diese Vorstellung entspricht auch dem Lebensraum unserer Hirsche und Rehe. Hätten sie die freie Wahl, würden sie die Grenze zwischen Weide und Wald vorziehen – die Weide zum Fressen, den Wald zum Schutz.

Der Fundamente erschütternde Vortrag rief natürlich unter den Zuhörern viele Fragen auf, z. B. die Höhe der natürlichen Wilddichte, der Einfluss großer Beutegreifer und der Jagd.
Dr. Vera bezeichnete als natürliche Wilddichte die Anzahl der den Winter überlebenden Tiere. „Eine 30%ige Wintersterblichkeit verrät eine stabile Population“. Mit Nachdruck verneinte er die nicht auszurottende These der Bestandsregulierung durch Großprädatoren wie Luchs, Wolf und Bär: „Raubtiere regulieren nicht!“.

In sich abgeschlossenen Naturräumen wie der Serengeti oder dem Ngorongoro-Krater in Afrika lässt sich klar belegen, dass nur 25 % der ums Leben gekommenen Pflanzenfresser wie Gnus, Antilopen oder Zebras von Löwen und Hyänen getötet werden. „75 % sterben durch Mangel an Futter“, erklärte Dr. Vera.
Natürlich, das gestand Dr. Vera auch zu, lässt sich das erfolgreiche Experiment nicht so ohne weiteres auf den Bayerischen Wald übertragen. „In Holland gibt es keine Höhenunterschiede wie hier und damit auch nicht die großen Zugbewegungen, die bis zur Donau reichen“, stelle Dr. Vera fest. Das hieße mit anderen Worten: Das mittlerweile zunehmend touristisch interessante Projekt in Holland ist in Kopie nicht für den Bayerischen Wald geeignet, wenngleich gewissen Parallelen festzustellen sind. Mit oder ohne Borkenkäfer fällt uns das Zulassen großer Naturveränderungen schwer, besonders dann, wenn lieb gewonnene Landschaftsformen über einen längeren, vom Menschen nicht erlebbaren Zeitraum hinaus verschwinden.

Bildunterschrift:
In für uns unvorstellbar hoher Wilddichte leben im Naturschutzgebiet Oostvaarderplassen nahe Amsterdam Reh- und Rotwild, Auerochsen und Wildpferde sowie Graugänse beieinander und nutzen gemeinsam das Grasland. Trotzdem ist zu beobachten, wie ausgehend vom mit Stacheln bewehrten Schwarzdorn neuer Wald entsteht.
Foto: Dr. Frans Vera

 


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