Alles ver-rückt

50 Jahre Nationalpark Bayerischer Wald: Interview mit Dr. Franz Leibl und Prof. Jörg Müller

Eintrag Nr. 64/2020
Datum: 16.09.2020


Dr. Franz Leibl (links) und Prof. Jörg Müller. Fotos: Daniela Blöchinger
Dr. Franz Leibl (links) und Prof. Jörg Müller. Fotos: Daniela Blöchinger

Dr. Franz Leibl.
Dr. Franz Leibl.

Prof. Jörg Müller.
Prof. Jörg Müller.

Grafenau. Die Coronakrise hat den 50. Geburtstag des Nationalparks Bayerischer Wald auf den Kopf gestellt. Alle Feiern wurden gecancelt, die Besucherzentren und -hotspots stattdessen krisenkonform umgestaltet.„Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen“, sagen Nationalparkchef Dr. Franz Leibl und sein Stellvertreter, Forschungsleiter Prof. Dr. Jörg Müller. Sie erzählen, wie sich Deutschlands ältestes Großschutzgebiet gegen das Virus wappnet und was uns die Natur in einer Krise lehrt. Ein besonderes Gespräch in einem besonderen Jubiläumsjahr.

Der Nationalpark wird 50 – aber von feiern kann keine Rede sein.

Franz Leibl: Alles, was man gemeinhin unter ,feiern‘ versteht, findet nicht statt. Auch der Staatsempfang am 7. Oktober in München steht noch in den Sternen. Eines der großen Feste mit der Bevölkerung wollen wir auf Juni 2021 verlegen, das war’s dann aber auch. Eine traurige Sache, auch für die Nationalparkmitarbeiter, die das Jubiläum lange und aufwändig vorbereitet haben.

Dennoch lockt der Nationalpark in seinem Jubiläumsjahr mehr Besucher an denn je.

Franz Leibl: Die aktuellen Besucher sind nicht identisch mit den Gästen der Jahre davor. Viele von ihnen interessieren sich gar nicht so sehr für die Natur. Würden sie woanders hinfahren können, wären sie nicht in den Nationalpark gekommen. Dennoch sind wir für den großen Besucheransturm gewappnet und haben etwa Einbahnstraßen im Tier-Freigelände bei Neuschönau eingerichtet. Außerdem achten zusätzliche Waldführer in Stoßzeiten darauf, dass die Regeln, die Corona uns auferlegt, eingehalten werden.

Wie geht die Natur mit der Krise um?

Jörg Müller: Obwohl im Augenblick massiv Besucher in den Park drängen, ist es für die Natur gerade noch erträglich, weil die kritischen Phasen des Jahres bereits überwunden sind. Die Balzzeit des Auerhuhns im Frühjahr zum Beispiel verlief heuer sehr entschleunigt, weil die Tiere kaum gestört wurden. Trotzdem müssen wir jetzt darauf achten, dass die vielen Menschen sensible Bereiche im Park nicht aus Ignoranz oder Unkenntnis zertrampeln.

Welche Verantwortung tragen Nationalparks gerade zu Krisenzeiten?

Jörg Müller: Die Krise macht sichtbar, was wir gesellschaftlich schon länger beobachten: Menschen leben geballt in Städten, was gerade zu Coronazeiten unglaublich belastend sein kann, und suchen Ausgleich bei uns auf dem Land. Dies zeigt einmal mehr, dass es Räume braucht, die uns gesund erhalten. Der Nationalpark ist darauf ausgelegt, Besuchern einen naturnahen, entspannten Erholungsraum zu bieten. Darauf haben wir die letzten fünfzig Jahre hingearbeitet.

Franz Leibl: Nicht zu vergessen die große soziale Komponente von Nationalparks, die in der Vergangenheit gar nicht so definiert und thematisiert wurde. Heute weiß man, dass Erholung und Naturerleben wesentliche Triebfedern sind, um einen Nationalpark zu besuchen. Menschen brauchen Natur, um sich zu regenerieren. Und zwar eine ernsthafte Natur und kein Maisfeld oder eine Güllewiese. Mir ist es unverständlich, wie man als Politiker mit Verantwortung gegen Großschutzgebiete sein kann. Wenn man eine gesunde Gesellschaft haben möchte, muss man Naturerleben in besonderer Weise ermöglichen – so, wie das in Nationalparks geschieht.

Mit welcher Strategie geht der Nationalpark Bayerischer Wald in die Zukunft?

Franz Leibl: Weil stets mehr und neue Menschen in den Park kommen, werden wir verstärkt informieren, lenken und leiten müssen. Wir werden unsere Wege so ausrichten, dass sie Naturerleben ermöglichen, aber gleichzeitig störsensible Bereiche außen vor lassen. Das ist keine leichte Aufgabe, der wir uns aber stellen.

Geht es nach Ministerpräsident Söder, wird der Park bald um 600 Hektar erweitert.

Franz Leibl: Die Flächen würden den Park natürlich aufwerten. Am Wistlberg gibt es ja bereits eine Besucherkonzentration, die wir im Fall einer Parkerweiterung mit den grenzübergreifenden Rad- und Wanderwegen weiter verfestigen und ausbauen würden.

Jörg Müller: Weil die Erweiterungsfläche unmittelbar an den Nationalpark Šumava grenzt, steckt in ihr sehr viel Zukunft: Manche Strategien lassen sich nicht einseitig lösen – zumal auch die Natur keine Grenzen kennt und der gesamte Bergrücken einen Lebensraum darstellt.

Was können wir in der Krise von der Natur lernen?

Jörg Müller: Zieht man allein die biologische Seite in Betracht, ist die Coronakrise etwas völlig Normales. Wie sich Arten ausbreiten, ist eine ökologische Standardfrage. Mit Covid trifft das Virus jetzt eben den Menschen. Weil wir bislang immer gut durchgekommen sind, haben wir verlernt, dass es auch für uns mal kritisch werden kann. Die aktuelle Krise bringt uns nun aus der Fassung – oder bestenfalls zum Nachdenken.

Franz Leibl: Viren sind sehr schwer beherrschbar. Freilich ist Covid nicht so tragisch, als dass die menschliche Existenz bedroht wäre, aber immerhin zeigt uns das Virus, dass die Natur nicht so beherrschbar ist wie wir Menschen immer glauben. Der Mensch ist Teil der Natur, nicht ihr Herr. Wenn wir als Erkenntnis aus der Krise mitnähmen, dass Natur einen höheren Stellenwert verdient, wäre schon mal ein großer Wunsch erfüllt.

 

Hinweis: Dieser Bericht stammt aus dem Nationalpark-Magazin "Unser wilder Wald" (Ausgabe: September 2020).

 

Zum Seitenanfang scrollen nach oben